Gewöhnung und das Notizbuch deines Körpers

Der Körper merkt sich, was man ihm antut. Der letzte Haken ist ein Siegel ohne Option.

In meinen Vorträgen werde ich häufig damit konfrontiert, dass man sich ja an alles gewöhnen kann. Was aber genau ist Gewöhnung? Gewöhnung ist (eben nicht zu verwechseln mit Gewohnheit) ein Notprogramm oder eine Schutzfunktion des Körpers, um schädliche externe Einflüsse mittelfristig nicht negativ auf elementare, tägliche Überlebensfunktionen einwirken zu lassen. Der Körper versucht ein Notprogramm zu entwickeln, welches auch läuft, wenn seine natürlichen Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Nach Außen sieht dies dann aus, als würde der Körper nun sehr gut mit der neuen Situation klarkommen.

  • Er nimmt es hin, keinen Schlaf zu erhalten.
  • Er nimmt es hin, schlechte Nahrung zugeführt zu bekommen.
  • Er nimmt es hin, seelischen Belastungen ausgesetzt zu werden.
  • usw.

Der Mensch nimmt dies alles als „Gewöhnung“ war, und sagt stolz: “ Mein Körper hat sich daran gewöhnt wenig zu schlafen, ungesund zu essen und unter Stress zu arbeiten!“
Aber der Körper führt dieses Notizbuch.

  • Für jeden Tag Schlafmangel macht er ein Häkchen in dieses Notizbuch.
  • Für jeden Bissen schlechter Nahrung macht er ein Häkchen in sein Notizbuch.
  • Für jeden Tag psychischer Belastung macht er ebenfalls ein Häkchen in sein Notizbuch.
  • usw.

Er notiert sich auch, wann er mit dir darüber gesprochen und dich auf die Missstände und den fehlenden Respekt ihm gegenüber hingewiesen hat. Er tut dies in Form einer Krankheit, eines Leidens oder Angstzuständen. Er tut es auch über Traurigkeit und Depressionen.
In der Regel nehmen wir diese Mitteilungen nicht als solche wahr, sondern versuchen den Körper mit Medikamenten zum Schweigen zu bringen, anstatt ihm aufmerksam zuzuhören.

Irgendwann jedoch … ist das Notizbuch voll und der Körper schließt es ein letztes Mal. Dann will er nicht mehr das akzeptieren, was wir ihm zumuten. Wie ein Partner, der lange versucht hat, die Demütigungen und schlechte Behandlung seines Gegenübers auszuhalten.
Einen neuen Partner zu finden, ist möglich. Einen neuen Körper jedoch …

Notprogramm statt Evolution

Gewöhnung ist kein evolutionärer Vorgang, in welchem der Körper plötzlich im Eiltempo das erreicht, wozu die Evolution ein paar Millionen Jahre benötigt. Wenn wir z.B. glauben, uns an Lärm gewöhnt zu haben, bedeutet dies, dass der Körper schlichtweg lediglich den Fokus in Bezug auf die Aufmerksamkeit auf den Lärm drastisch reduziert, damit wir unsere sonstigen täglichen Dinge tun können. Lärm schmerzt jedem zu Beginn. Dieser Schmerz ist das „Signal“ des Körpers, dass etwas geschieht, was gegen seine Natur ist. Es ist ein Warnsignal mit dem Ziel eine Veränderung der Situation zu erreichen, denn Lärm gehört nicht in eine gefahrlose, gesunde Umgebung des Menschen. Der natürliche „Normalzustand“ ist lärmfrei.
Reagiert nun der Mensch nicht auf diese Signale, startet ebendieses „Notprogramm“, in welchem der Körper versucht, die Auswirkungen des Lärms auf die kurzfristige, tägliche Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse zu verringern. Diese Reduzierung der Aufmerksamkeit zu Gunsten anderer Tätigkeiten nehmen wir nun als Gewöhnung wahr. Da dieses Notprogramm (wie z.B. jedes Notstromaggregat auch) nicht auf Dauer ausgelegt ist, wird der Körper in der Folge weiter Signale senden, damit man sich dieser Situation entzieht. Im Extremfall kommt es dann eben zu Schädigungen, die im günstigsten Fall reversibel sind. Im schlimmsten Fall kommt es dann aber genau zu den dauerhaften Schädigungen, vor denen der Körper mit seinen Signalen eigentlich warnen wollte.

Wenn ich mich an Lärm gewöhne, nehme ich ihn also lediglich nicht mehr als gefährlich wahr, seine zerstörerische Wirkung findet jedoch weiterhin statt.

Ähnliches passiert übrigens auch bei Frauen, die von Ihren Männern geprügelt werden, sie aber dennoch nicht verlassen können. Sie bauen ein Muster auf, was sie abspulen, wenn eine Misshandlung stattfindet. Auch dies ist nichts anderes als „Gewöhnung“.

Egal ob Lärm, Alkohol, Stress oder eine andere körperliche/mentale Überbelastung, es steckt immer das gleiche Grundmuster dahinter. Wie lange dieses Notprogramm dann jeweils läuft, hängt von vielen Parametern ab, z.B. auch davon, wieviele Notprogramme gleichzeitig laufen.

Notstromaggregat und Gewöhnung

Ich nutze gerne den Vergleich mit einem Notstromaggregat. Wenn der Strom ausfällt, geht eine Warnlampe an und ein Notstromaggregat übernimmt die Stromversorgung, damit die Grundversorgung weiterhin gewährleistet ist. Experten machen sich nun auf die Suche nach der Ursache für die Fehlerquelle des Ausfalls des Hauptaggregates. Sie wissen genau, dass das Notstromaggregat nur temporär aushelfen kann. Ist der Fehler gefunden, wird er beseitigt und das Hauptaggregat übernimmt wieder die Stromversorgung.

Niemand würde jemals auf die Idee kommen, nun das Notstromaggregat als Standard-Energiequelle weiterlaufen zu lassen. Aber genau das ist das, was die meisten Menschen mit ihrem Körper tun. Sie nehmen war, dass der Körper eine „Lösung“ gefunden hat (Notprogramm), und lassen dieses Notprogramm nun schlichtweg weiterlaufen, ohne sich auch nur Ansatzweise um die Beseitigung des Hauptproblems zu kümmern. Das kann dann z.B. die Beseitigung der Lärmquelle, das Verlassen des prügelnden Partners oder das Beenden des Alkoholkonsums sein.

„Aber ich bin trotzdem alt geworden“

Ob der verstorbene ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der trotz Kettenrauchen ein hohes Alter erreicht hat, oder der Vater vom Nachbarn, der eigene Opa oder vielleicht auch man selbst. Es gibt sie immer, die Beispiele, die alle Erkenntnis zu widerlegen scheinen. Aber … zum einen wissen wir nicht, was diese Menschen tatsächlich erleiden oder erlitten haben, da dieses Leiden oft auch nicht als solche empfunden werden oder damit nicht in Verbindung gebracht werden (gerade bei Schlafmangel ist dies der Fall). Und die wenigsten sprechen darüber.

Zum anderen sind wir eben alle Individuen mit einer völlig unterschiedlichen Historie und mit einer völlig unterschiedlichen Konstitution. Sprich: Nur weil wir keine Folgen vom Rauchen, Trinken oder zu wenig Schlaf spüren, darf dies nicht auf alle anderen 7,7 Mrd. Menschen übertragen werden. Gerade bei Führungskräften ist dieses „ich habe ja auch keine Probleme“-Denken nach wie vor stark verbreitet, um sich gegen Veränderungen oder schlicht neue Erkenntnisse zu wehren. Sie blenden aus, dass es Millionen Menschen mit Krankheiten bedingt durch Rauchen/Passivrauchen, durch Alkohol und vor allem durch Schlafmangel gibt.

Natürlich haben unsere Eltern und Großeltern früher auch um 8.00Uhr in die Schule gemußt, und zudem wegen langer Schulwege zu Fuß noch früher aufstehen müssen. Aber die soziale Situation mit all seinen Belastungen und Forderungen war zu dieser Zeit auch eine völlig andere. Es gab keine 24/7-Welt, die den Schlaf aus unserem Leben saugen will, rund um die Uhr Erwartungshaltungen an uns stellt und Ängste produziert, die unsere Großeltern nicht kannten. Damals gab es sicher andere Ängste, aber eben … andere.

Es wäre fatal, wenn wir die Folgen der Anforderungen der heutigen Zeit geringschätzen oder gar ignorieren würden, nur um neue Erkenntnisse nicht wahrhaben zu wollen und die notwendigen Schlussfolgerungen für sich selbst als Mensch oder für das eigene Unternehmen als lebende Organisation nicht ziehen zu müssen.

Hochsensibilität

In diesem Zusammenhang will ich auch kurz das Thema „Hochsensibilität“ ansprechen. Ich bin selbst überzeugt, dass wir alle hochsensibel auf die Welt kommen. Die überbordenden Reize unserer Gesellschaft lassen jedoch bei den meisten Menschen das „Notprogramm“ starten, um nicht von diesen Reizen erdrückt zu werden, wie z.B. bei Lärm. Der Schutzmechanismus hindert also die meisten daran, ihre Hochsensibilität zu spüren.

Bei den Hochsensiblen wurde dieses Notprogramm nicht gestartet, weil diese hohe Sensibilität für bestimme Zwecke benötigt wurde, z.B. als kindlicher Überlebensmechanismus im Rahmen eine toxischen Beziehung der Eltern. Deswegen sind auch viele Autisten hochsensibel. Sie brauchen diese Hochsensibilität, um ihre Umgebung quasi abtasten, und logisch erarbeiten zu können. Wer logisch und rational denkt und handelt, braucht viele Informationen. Je mehr, desto logischer das Handeln.

Viele Menschen, die z.B. von der Stadt auf das Land bzw. an ruhigere Orte ziehen, entwickeln im Laufe der Zeit eine Hochsensibilität, oder besser … sie reaktiviert sich wieder. Lärm, Menschenmassen … all dies wird dann wieder unerträglich.

Fazit

Je mehr wir mit unserem Körper kommunizieren, ihm zuhören und ihm versuchen, Gutes zu tun, desto länger dauert es, bis das Notizbuch der Gewöhnung voll ist, sprich – desto länger können wir leben. Niemand würde es akzeptieren, dass ein anderer das mit uns macht, was die meisten ihrem Körper zumuten … weil es ja alle so machen. Jeder aber hat die Chance sein Leben zu gestalten. Die meisten geben sich jedoch damit zufrieden, gestaltet zu werden. Das gilt sowohl für ihren Geist, als auch für ihren Körper.

  • Wer ißt, was er hingelegt bekommt, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen, läßt andere den eigenen Körper gestalten.
  • Wer seinem Körper den Schlaf entzieht, um Erwartungshaltungen anderer zu entsprechen, lässt andere den eigenen Körper gestalten.
  • Wer aus Angst vor Veränderung die Dinge nicht tut, die er sich sehnlichst wünscht, lässt ebenfalls andere den eigenen Körper gestalten.

Der Körper ist der Spiegel der Seele, und die Seele hat kein Alter. Aber wenn die Seele ein volles Notizbuch sieht, sucht sie sich einen anderen Körper in der Hoffnung, dass dieser ihr ein besseres Zuhause ist.

„Körper“ könnte auch „Leben“ heißen. Was muten Sie Ihrem Körper und Ihrem Leben zu? Denken Sie daran, das letzte Häkchen ist keine Option.

Michael Wieden