Wenn Sie diesen Artikel lesen, ist Olympia 2016 in Rio vielleicht noch im Gange, vielleicht aber auch schon Vergangenheit. Vielleicht haben Sie mit den einzelnen Athleten oder Teams mitgefiebert, vielleicht hat es sie aber auch gar nicht interessiert. Die „Seele“ von Olympia ist das Gewinnen und das Verlieren, so sind wir es gewohnt zu verstehen, und wir erleben es in diesen Tagen täglich, Gewinner und Verlierer auf dem Bildschirm zu sehen. Und wenn Olympia vorbei ist, verschwinden die meisten Namen, die über den Bildschirm geflimmert sind, wieder in der Bedeutungslosigkeit. Was bleibt, sind die großen Namen, die uns dann weiterhin in den nächsten sportlichen Events, in Fernsehshows oder in der Werbung begegnen. Denn das ist der Deal, sie gewinnen im Sport, und verlieren an Privatsphäre. Aber darum soll es hier nicht gehen.
Denn letztendlich spiegelt Olympia ja ohnehin nur das wieder, was sich in der Gesellschaft 24h am Tag, 365 Tage in der Woche abspielt. Gewinnen und Verlieren. Es scheint wie ein Naturgesetz, denn auch in der Natur gibt es ja Gewinner und Verlierer. Aber ist das gesellschaftliche „Verlieren“ tatsächlich mit dem Naturgesetz zu vergleichen?
Was bedeutet eigentlich „gewinnen“ oder viel wichtiger, was bedeutet „verlieren“?
Wenn ich gewinnen will, will ich dann, das andere verlieren?
Für mein erstes Buch hatte ich den Begriff „Liquid Work“ entwickelt, weil er genau mein Verständnis von „gewinnen“ widerspiegelt.
„Liquid Work bezeichnet die Arbeit bzw. Tätigkeiten, deren Arbeitsform sich immer danach ausrichtet, für einen Arbeitsprozess eine optimale „win-win“ – Situation für alle an diesem Arbeitsprozess beteiligten (z.B. Arbeit-/Auftraggeber, Arbeit-/Auftragnehmer) zu erreichen.“
Nun habe ich diesen Begriff speziell auf die Arbeitswelt abgestimmt. Im Kern ist er jedoch auf jedwede gesellschaftliche Situation zu übertragen. Liquid Work bedeutet nichts anderes, als Menschen beim Gewinnen mitzunehmen, anstatt Menschen durch den eigenen Gewinn zu Verlierern zu machen.
Sie werden nun sagen „Nice idea .. aber wie soll das funktionieren .. und vor allem im Sport?“ oder, wie schon gesagt, „Das ist doch ein Naturgesetz, dass einer verliert!“
Auf Facebook ist mir das obenstehende Video begegnet, und kurz zuvor las ich über die „Niederlage“ von Angelika Kerker (Tennis) im Finale. Wer schon mit Menschen mit Down-Syndrom zu tun hatte, weiß, dass diese Menschen selten auf Kosten anderer gewinnen wollen. Das Video ist sicher eine gestellte Situation, bildet aber zum einen die tatsächliche Denkweise dieser besonderen Menschen ab, und zeigt gleichzeitig auf eindrucksvolle Weise, was ich unter „Liquid Work“ verstehe. Ich kann alleine durch ein Ziel laufen, und „gewinnen“, ich kann aber auch mit allen gemeinsam durchs Ziel laufen … und habe ebenso gewonnen, ohne dass es einen Verlierer gibt. Was also steht dem entgegen? In meinen Augen einzig die Erwartungshaltung.
Erwartungshaltung bestimmt den Wert einer Leistung
Zurück zu Angelika Kerber. Das Wording war weltumspannend einhellig. Sie hat verloren. Das Interessante dabei ist, dass entsprechend der Erwartungshaltung der Betrachter (und teilweise auch der Sportler selbst) entweder von „Goldmedaille verloren“ oder
„Silbermedaille gewonnen“ spricht. Bei Angelika Kerber war es klar. Allein die Erwartungshaltung bestimmte das Wording am nächsten Tag. Man erwartete, dass Sie das Match gegen eine Aussenseiterin gewinnt. Diese Grundhaltung bestimmte dieses komplette Match. Doch sie „verlor“. Und somit war klar, sie hat nicht Silber gewonnen sondern Gold verloren. Sicher hätte es sich anders verhalten, wenn Ihr im Endspiel Serena Williams gegenübergestanden wäre. Dabei wäre der Fakt der Gleiche. Sie hat so oder so die Silbermedaille um den Hals hängen. Doch die Erwartungshaltung bestimmte deren Wert. Und, sind wir auch hier ehrlich, es sind die Medien, die letztendlich die Verlierer machen. Denn diese produzieren gemeinschaftliche Erwartungshaltungen und zelebrieren dann den „gemeinschaftlichen Gewinn“ oder den „einzelnen Verlust“.
Das ganze Paradoxon wird deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass man etwas, was man nicht hat, auch nicht verlieren kann. Insofern ist es nicht möglich, eine Goldmedaille zu verlieren, sondern einzig eine Silbermedaille zu gewinnen.
Menschen sind Menschen, Leistungen sind Leistungen, Erfolge sind Erfolge und einzig die Erwartungshaltung bestimmt, in welche Richtung das Pendel der Bewertung ein- und derselben Begebenheit ausschlägt.
Sehr deutlich macht es im Übrigen auch die Tatsache, dass die Paralympics direkt im Anschluss nur einen Bruchteil der Medienaufmerksamkeit haben. Weniger Leistung? Weniger Mensch? Weniger Erfolg? Ja und Nein, denn man erwartet letztendlich weniger Aufmerksamkeit durch .. weniger Leistung, redet aber die ganze Zeit davon, was für eine aussergewöhnliche Leistung diese Menschen vollbringen. Also doch irgendwie mehr Leistung, aber eben nicht die, die man erwarten … möchte.
Wenn ich also gewinnen will, will ich automatisch, dass andere verlieren? Will ich also, dass andere bitte in der Bedeutungslosigkeit verschwinden mögen, damit ich nicht in ebendieser verschwinde? Jeder Hochleistungssportler müsste hier mit einem ehrlichen „Ja, ich möchte dass die anderen Inder Bedeutungslosigkeit verschwinden!“ beantworten, würde dies jedoch selten tun. Lediglich bei Sportarten wie Boxen, Wrestling (ok … vielleicht gehört das dort ohnehin zum Deal) oder anderen artverwandten Sportarten ist das „jemanden zur Hölle schicken“ Teil des (Marketing-) Konzeptes.
Und wie sieht es nun in der Gesellschaft aus? Welcher der „GewinnerInnen“ in der Gesellschaft hat auf seinem Weg zum Erfolg (so wie er/sie ihn definiert) hat auf seinem Weg tatsächlich Menschen mitgenommen, und wieviele haben stattdessen aktiv am Misserfolg anderer mitgearbeitet, um selbst erfolgreich zu sein? Und mit „aktiv“ meine ich im bewussten Angriffs- und Zerstörungsmodus. Wieviele Führungskräfte haben Ihre Position auf Kosten anderer erhalten oder halten Ihre Führungsposition nicht durch „Können“ sondern durch „Zerstörung“? Die Welt regt sich über Recep Tayyip Erdoğan auf, und doch ist unser Land voll mit Erdogans in den Führungsetagen. Zerstörung als Prinzip des Stärkens, Verlieren als Prinzip des Gewinnens.
Wenn ich gewinnen will, will ich dann, das andere verlieren?
Im Sport ist dies, wenn wir ehrlich sind, eine Grundvoraussetzung um „erfolgreich“ zu sein. Aber automatisch übernehmen wir dies in unsere Gesellschaft und hier vor allem in unsere Arbeitswelt. Das „Tretmodell“ (von oben nach unten) ist nach wie vor en vogue. Und all dies nur, weil man Angst vor dem Verlieren hat. Dabei kann aus einer Firmenkultur auf Basis von Liquid Work das Verlieren zur Unmöglichkeit werden. Wenn wir uns in Ruhe den Film noch einmal ansehen, sollten wir all dies spüren. Denn die Mutter und der Vater in diesem Film verkörpern bis zum Sturz des Jungen uns selbst bzw. die Gesellschaft, voller Erwartungshaltung und voller Enttäuschung über den Sturz.
Was für ein Gefühl aber ruft in Ihnen hervor, was dann passiert?
Treten, liegenlassen oder mitnehmen. Jeder von uns hat die Chance, Erfolg für sich zu definieren. Ich persönlich wünsche mir „Liquid Work“ in jedem Unternehmen. Was die Kinder in dem Film schaffen, sollten Erwachsene spielend erledigen können.
Ihr Michael Wieden